Wildnis

Rede zur Eröffnung der Ausstellung Wildnis in der rk-Galerie für zeitgenössische Kunst im Ratskeller Berlin-Lichtenberg am 3.9. 2019 mit den Künstler*innen Tine Benz, Wolfgang Flad, Elisa Haug, Susanne Kohler, Matthias Moravek

Verfasst und gehalten von Jan Kage, September 2019

Die Wildnis brennt.

In der Sibirischen Arktis, in Alaska und im Amazonasgebiet stehen die Restrefugien der vom Menschen unberührten Natur in Flammen. Die brennende Wildnis wird somit zum apokalyptischen Sinnbild eines Endzeit-Anthropozän. Dabei ist es egal, ob diese letzten ursprünglichen Flächen nun von Menschen angezündet werden wie in Südamerika oder aufgrund der Entflammung der dem Permafrostboden entfleuchenden Gase wie in Sibirien der Fall. Denn auch der gefrorene Boden taut wegen der menschengemachten Erderwärmung auf. Liest man dieses Sinnbild fatalistisch, dann wird die Menschheitsgeschichte mit der brennenden Wildnis enden.

Was einen schönen Zirkelschluss erlaubt: Denn mit dieser begann auch die Kulturgeschichte des Menschen. Die Brandrodung zählt zu einer der ältesten Techniken, die der Homo sapiens entwickelt hat, um der Wildnis Land abzutrotzen. Der Zaun gehört auch dazu. Der Brand löscht die Wildnis aus. Der Zaun schließt sie aus, markiert also Kulturland. Auch Zäune und Mauern sind derzeit wieder sehr en vogue. Endzeit für die Kultur.

Diesseits des Zaunes kann man gestalten. Hier baut man an, wird Bauer. Baut Felder. Baut Hütten, Häuser, Städte. Jenseits des Zaunes droht Gefahr. Gefährliche Tiere und solche, die die Ernte streitig machen wollen, leben dort. Eine Welt ist da, die umso fremder wird, je länger sie von dieser kultivierten hier diesseits des Zaunes abgetrennt ist. Irgendwann zogen sogar Fabelwesen, Kobolde und Schrate in die Wälder ein und machten die Natur noch unheimlicher, als sie es so schon war. Die Wildnis, sie ist auch das Fremde. Und das Fremde, wie die Wildnis, ist doppeldeutig: Verlockung und Bedrohung wohnen ihr zugleich inne.

So verlockend und schön die Wildnis im Sinne ursprünglicher Natur auch sein mag, sie hat ihre eigenen, nicht vom Menschen gemachten Gesetze. Sie ist oft undurchdringliches Dickicht. In ihr kann man sich verlaufen, wie in den sibirischen Wäldern, wo jedes Jahr etliche Menschen einfach verloren gehen. Der Mensch kann mit Wildnis eigentlich nichts anfangen. Er muss sie zurückdrängen und sie einhegen, um Raum für Landwirtschaft und Stadt zu schaffen. Um die mühsam erwirtschaftete Ernte nicht mit den anderen Kreaturen teilen zu müssen. Er ringt der Wildnis das Land ab. Heute sind nur noch ein Viertel bis ein Drittel der Erdoberfläche Wildnis. Tendenz abnehmend. Kommt sie mal zurück und sucht sich eine neue Nische, wird darauf aggressiv reagiert. In Bayern erschießen sie Problembären. In Brandenburg haben sie Angst vorm Wolf. Und nicht nur vor dem.

Gleichzeitig liegt jenseits des Zauns auch ein Raum der Möglichkeiten, der Entdeckungen, der Abenteuer. Ein Raum für die Londons und die Humboldts dieser Welt. Die Abenteurer und Entdecker. Man braucht Neugier und Mut, um sich in die Wildnis aufzumachen. Die Wildnis teilt die Menschen in die Neophilen und die Neophoben, also solche, die das Neue suchen, die es hin zum Neuen zieht und jene, die genau das fürchten.

Interessanterweise konnten Ornithologen bei Meisenpopulationen und anderen Vogelarten, die neben den Menschen die Städte bevölkern und hier zwischen Keksen auf den Untertassen der Cafétische und den Pommesbudenmülleimern ein passables Habitat gefunden haben eine bedeutend stärker ausgeprägte Neophilie feststellen, als bei deren Artgenossen, die dem Landleben frönen. Aber man soll selbstverständlich nicht von Meisen auf Menschen schließen.

Festzuhalten bleibt: Die Wildnis ist auch immer gleich das Fremde. Die einen lieben Exotik und ziehen in die Welt hinaus. Die anderen fürchten sich zu Tode und wollen die Zäune höher ziehen. Eine Symbiose ist aufgrund der eingeschrieben Ambiguität eigentlich ausgeschlossen.

Oder vielleicht auch nicht. Kaum hinterlässt der Mensch Raum in Form von Brachen, besiedelt schon die Natur via Pionieren den Raum. Die Wildnis kehrt also zurück, sobald die Kultur weicht. Und nicht nur das. Die Wildnis entert die Stadt und behauptet sich, nimmt sich hier den Platz, den die Zivilisation ihr im ländlichen Raum nimmt. Flechten, Birken, Dohlen, Füchse: sie alle leben unter uns, ohne domestiziert wurden zu sein. Von den Darmbakterien ganz zu schweigen.

Auch in der Kunst- und Kulturgeschichte hat die Wildnis immer schon Spuren hinterlassen. Die romantischen Landschaftsgärten ahmten sie nach und die romantische Malerei idealisierte sie, vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund voranschreitender Urbanisierung und Industrialisierung. Hier wird die Wildnis also zu einem Sehnsuchtsort. Eine Sehnsucht nach dem ursprünglichen, dem rohen, naiven, unverfälschten drückt sich hier aus und wird hier idealisiert. Und verkennt dabei, dass sie selbst bloß Projektion ist. Tatsächlich vom Menschen unberührtes Land lässt sich auf der Erde schwer finden, hat der Mensch doch in fast allen Regionen gewirkt. Und was soll schon wirklich ursprünglich sein, wenn in der Natur alles Abfolgen von etwas Vorausgegangenem und evolutionäre Prozesse sind? Die Amöbe vielleicht, der Einzeller. Aber der ist schnell gemalt. Zu schnell und viel zu klein für William Turner oder Caspar David Friedrich.

Die Jungen Wilden (auch Neue Wilde) wurden die west-deutschen Maler der späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts genannt; beziehungsweise nannten sich selber so. In Abgrenzung zur konzeptuellen Strenge zuvor, die den Malergestus ablehnte. Und in Anlehnung vielleicht an jene Physiker der 20er Jahre, die damals die mit ihren unkonventionellen Ideen ihre Wissenschaft revolutionierten und die Quantenphysik erdachten.

Wildnis in der Kultur ist also Gegenbewegung. Eine Haltung, ein Ausdruck, der gegen eine Kultur gesetzt wird, welche als in sich erstarrt oder entfremdet verstanden wird. Der wilde Gestus ist ungestüm und genialisch und nicht von einem zu viel an Kultur und Kultiviertheit, an Stilisierung seiner eigentlichen Natur entfremdet.

Wild ist so auch immer schnell Klischee. Oder Kitsch. Und zwar immer da, wo es zum eigenen Abbild wird. Bei den Vernissagen und in den Kneipen den Bohèmien raushängen lassen, aber in Anwesenheit eines potentiellen Sammlers und Käufers, die gute Kinderstube nach vorne kehren. FKK am Monte Veritas, aber Bausparvertrag. Oder noch allgemeiner: Am Wochenende wilder Rocker auf dem Motorrad, aber vor der Wohnungstür schön die Schuhe ausziehen. Wildnis in der Kultur wird schnell zum Selbstbetrug. Der Mensch ist und bleibt Kulturtyp. Wie wild er sich auch geriert.

In Tine Benz‘ Malerei zeigt sich die Wildnis als abstraktes Gestrüpp. Als Dickicht. In anderen ihrer Bilder sehen wir aber auch eine Natur über der ein Gitter liegt oder in der sich ein Schiff verliert. Also eine Anwesenheit von Kultur. Auch den urban jungle, die Großstadt findet sich in ihren Motiven. „It s like a jungle sometimes it makes me wonder how i keep from going under“ – hieß es bei The Message von Grandmaster Flash & The Furious Five. Man kann hier untergehen und sich verlieren. Die Farben ihrer Wildnis überstrahlen, sind zu grell für reinen Naturalismus, sind fast LSD. Insofern verweisen sie auf Turner und Friedrich, die die Farben auch überbetonten – sei es, als Effekt, sei es als Bedeutungsträger.

Das abstrakte Gestrüpp findet sich auch in Wolfgang Flads Skulpturen. Gleichzeitig sind sie deutungsoffen. Dieses Gestrüpp, diese Verästelungen könnten genauso gut auch ein System aus Adern oder die Läufe und Nebenarme eines Flusses sein oder etwas rhizomatisch wucherndes. Sie laden dazu ein, über die Parallelen der Erscheinungsformen zu rätseln. Wieso ähneln sich ein System aus Adern und dieWurzel eines Baumes? Gleichzeitig könnte auch Flads „Gestrüpp“ Abbild von Kultur sein, ein Satelitenbild von Straßen etwa. Was zu der Frage führt, ob die Kultur am Ende dazu verdammt ist immer wieder die Natur bewusst oder unbewusst zu imitieren, weil diese bereits die Blaupause für alles Existente ist und auch die Kultur am Ende Kind der Natur ist. Was ist der Unterschied zwischen einer Megapolis und einem Ameisenstaat?

Elisa Haugs Reihe „Big Bang“ spiegelt ebenso ein scheinbares Wirrnis. Hier ein Chaos aus Formen und Gittern, Netzen, Strukturen – das am Ende wahrscheinlich gar nicht wirr und ungeordnet ist, sondern bloß eine sehr komplexe Ordnung der Dinge abbildet. Haug verweist ja schon im Titel auf den Urknall, in dessen Folge das heutige Universum aus scheinbar chaotischen Prozessen entstand. Scheinbar deshalb, weil die Physik dahinter dermaßen komplex ist, dass sie für unseren Geist und unsere Gehirne nicht einfach so zu begreifen ist. Auch unsere Gehirne und ihre Synapsen sind übrigens auf eine Weise miteinander verknüpft, die den bei Flad beschriebenen Verästelungen zu entsprechen scheinen – oder besser umgekehrt. Haugs Titel „Big Bang“ schließt übrigens auch wieder den Kreis zu den Jungen Wilden. Nicht den malenden Männern der 80er, sondern zu den Physikern der 20er Jahre. Wenn hier etwas wild ist, dann das Denken und das Weltall.

Matthias Moraveks Vögel bringen uns – unter anderem – wieder zu den oben bereits beschriebenen Ornithologen. Die Vögel, einerseits Sinnbild der Freiheit, die sich mit ihren Schwingen über Ländergrenzen und Zäune, wie Mauern erheben, kommen in der Kultur paradoxerweise immer nur als Gefangene vor. Zwar werden sie in den Liedern als frei besungen – „I want to fly like an eagle / ‚Till I’m free“ (Steve Miller) usw.– und sind in vielen Malereien stolze Repräsentanten des Ungebundenen. Im modernen Leben hingegen, fristen sie ein ganz anderes Dasein. In der Voliere und im Käfig leben sie und in Ställen. Und wenn sie bereits gestorben und ausgestopft sind auch gern im Diorama. Dieser Schaukasten der Naturkundemuseen des 19ten Jahrhunderts, der dem kultivierten Städter vor der Erfindung des Tierfilms einen lebendigen Eindruck der Natur bieten sollte. Mit einer Caspar David Friedrich Reminiszenz als Backdrop. Ein Filmstill quasi – gefrorene Zeit, gestopptes Leben. Ein Absurdum.

Und dann ist da das Video von Susanne Kohler, die auszieht in die Welt. In die Alpen in diesem Fall, also ins Gebirge. Das Gebirge, das spätestens seit Luis Trenker für Wildnis steht, weshalb es von den Bergsteigern bezwungen werden muss. Kohler will nicht bezwingen. Sie lässt sich von nichts anderem leiten, als ihrem eigenen Echo. Eine metaphorische Symbiose aus Narziss und den Gesängen der Sirenen? Also dem Schönling, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, um sich darin zu verlieren und aus dem griechischen Fabelwesen (übrigens ursprünglich eine Mischung aus Mensch und Vogel – Nachtigall, ick hör dir trapsen; Matthias!), dass die Schiffer anlockt, um sie zu töten. Oder doch eine wissenschaftliche Untersuchung der Ultraschall-Orientierungstechnik von Fledermäusen mit menschlichen Mitteln, ergo der Stimme? Ob sich Kohler ihrem Echo folgend in den Alpen verliert, müssen Sie selber gucken.

Und ob Sie sich hier in der Wildnis verlieren werden und ob Sie eher neophil oder –phob sind, können Sie auch gleich selber testen.

Die Wildnis in den Ratskeller zu holen ist übrigens ein schöner Antagonismus. Denn der Rat, das Stadt- oder Stadtteilparlament ist ja das genaue Gegenteil von Wildnis, auch, wenn es hin und wieder wild zugehen mag. Die Straße ist wild. Der Pöbel ist wild. Im Parlament aber herrscht die Kultur! Doch ein bisschen Ausbruch muss sein. Und Ausflug auch. Also ab in den Keller.

Und dann: „I’m a real wild one and I like a wild fun – In a world gone crazy, everythingseems hazy, I’m a wild one“, sang Iggy Pop, der Pate des Punk. In einer Welt die verrückt geworden ist und in der man nicht mehr klar sehen kann, ist die Wildheit Gegenstrategie. Denn die Wildnis ist auch der Ort, wo alles Leben herkommt. Und somit ist sie wunderschön, rätselhaft und faszinierend. Genauso wie die Kunst. Und somit die Kultur.

Viel Spaß mit der Ausstellung „Wildnis“.

Was ist denn Wildnis? Ein Bild ist
nicht Wildnis
Das Bildnis

ist Bildnis
Das Bildnis des Iltis
ist nicht wirklich Wildnis Ein Quilt ist

es auch nicht sind beide Kultur

die Wildnis Natur
Die Wildnis
sie killt dich
sie stillt dies Verlangen nach Exotik pur.

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