DIE GESCHICHTE HAT EINEN FEHLER, ZU VIELE ERZÄHLER

Rede von Jan Kage zur Eröffnung der von Axel Anklam und Jan Muche kuratierten Gruppenausstellung im Kunstverein Gütersloh, 21.5. 2016
Zuerst zum Titel dieser Ausstellung: DIE GESCHICHTE HAT EINEN FEHLER, ZU VIELE ERZÄHLER.
Das ist für eine Gruppenausstellung, die die Arbeiten von 35 KünstlerInnen zusammenstellt, selbstverständlich ein ironischer Titel, schreiben wir dem künstlerischen Werk doch originäre Individualität zu. Wie kann es da bei einer Gruppenausstellung zu viele Erzähler geben? Ist der Künstler nicht per se Individualist? Auch heute, da wir das moderne Paradigma der absoluten Individualität in Frage zu stellen beginnen. Das Ich selbst ist ja Viele geworden. Und ob jedes Ich in seinem VW-Golf mit Levis Jeans und Spreizohring so schrecklich individuell ist, sei ohnehin dahingestellt. Der Titel legt also auch hoch-aktuelle Fährten.

Napoleon sagte: Geschichte ist eine Vereinbarung der Sieger. Das schuf natürlich Eindeutigkeit. Ein Sieger und sein Narrativ erzählten die Story, so wie sie war. Their story oder im Falle von Napoleon, His-Story, um einen Michael Jackson Titel mit aufzunehmen. Eine glasklare Angelegenheit war das. In dieser Welt gab es keine Fragen. Es gab Geschichte. Der Fragende war immer gleich In-Frage-Stellender und somit Spinner oder Dissident.

Aber so einfach ist die Sache ja schon lange nicht mehr. Es herrscht heute für einige, nicht wenige die Verwirrung der Postmoderne. Das Durcheinander der Stimmen, der vielstimmige Diskurs verwirrt die sich nach der vergangenen, scheinbaren Eindeutigkeit sehnenden Gemüter. In ihren Ohren klingt das Nebeneinander wie eine große Kakophonie, wie Lärm. Das schlichte Gemüt wünscht sich die Eindeutigkeit zurück. Es bilden sich Bewegungen und neue Parteien, die dieser schlichten Sehnsucht Ausdruck geben. Sie fordern eine Rückkehr, sie projizieren eine Vergangenheit, in der es klare Verhältnisse, dank eines klaren hegemonialen Diskurses gab. Ob dem jemals so war, wird nicht gefragt. Die Welt war einfach, war schwarz und weiß. Das grelle Bunt der Gegenwart, es blendet sie.

DIE GESCHICHTE HAT EINEN FEHLER, ZU VIELE ERZÄHLER. Jeder postet heute. Und jeder bloggt. Jeder hat nun seine eigene Geschichte, die er absolut setzt, als seine reine Wahrheit. Eine vermittelnde, filternde, konsenssuchende Instanz scheint obsolet. Bloß wenn jeder eine absolute Wahrheit besitzt, dann sind all die anderen automatisch Lügner, wenn nicht sogar noch schlimmer: Betrüger, Verräter, Schweine, Verbrecher, Lügenpresse.

„Ich bin die Wahrheit. Ich bin der Weg“, sagte Jesus Christus vor bald 2000 Jahren und wurde dafür vor knappen 60 Lenzen von Arno Schmidt als totalitär gescholten. Er schrieb diesem apodiktischen Satz sämtliche Völkermorde durch Christen an Juden, Moslems, Indianern und sonst noch wem zu. Wo nur eine Wahrheit und ein Weg ist, da sind automatisch viele Abtrünnige.

Ganz Schlaue behaupten ja auch gerne: Es gibt gar keine Wahrheit! Hier sei ein ganz einfacher Praxistest empfohlen: Geben Sie dem ganz Schlauen eine Ohrfeige und behaupten Sie dann, wenn er sich darüber beschwert, es nicht gewesen zu sein.

Jetzt sind wir von Geschichte zur Wahrheit abgeschweift. Aber die Geschichte behauptet ja nun auch wahr zu sein. Wenn sie nicht wahr wäre, ist sie nichts wert.

Die Kunst soll ihre Gegenwart abbilden. Soll die Gegenwart erzählen, erfahrbar machen, festhalten. Die gute Kunst ist deshalb in ihrer Zeit verankert und schreibt sich gleichzeitig ihr ein. Vielleicht will sie die Gegenwart sogar ändern. Besser machen. Die Menschen zu hehren Zielen führen, humanistischen zum Beispiel. Die Kunst ist die Schwester der Philosophie. Wenn sie nichts will und nichts behauptet, ist alle Malerei bloß Dekoration. Die Kunst muss sich verhalten. Beziehungsweise, der Künstler braucht eine Haltung zur Welt an sich. Ohne klaren Standpunkt keine klare Stimme und kein relevanter Ausdruck.

Der Titel dieser Gruppenausstellung, die ja auch und dies per definitionem viele, unterschiedliche künstlerische Stimmen zusammenfasst, ist also an sich schon paradox. Warum eine Gruppenausstellung organisieren, wenn man die vielen Erzähler nicht will. Wenn diese Gruppe, die hier ausstellt und die aber doch so gar keine Gruppe ist, nicht im traditionellen Sinne der Künstlergruppe, die sich für eine gewisse Zeit hinter einem Manifest versammelt, die proklamiert und die behauptet, – wenn die Mitglieder dieser Gruppe also hier und heute eines vereint, dann ist es der Wohn- und der Arbeitsort ihrer Mitglieder: die Stadt Berlin. Und das könnte durchaus bezeichnend sein.

Früher war es die Zukunft, die Verheißung war. Der Fortschritt würde die Menschheit befreien, sie erretten vor Elend, vor Armut und Krankheit. Technisch: Die Maschinen. Politisch: Der Sozialismus. Künstler schrieben Manifeste. Arbeiteten mit am neuen Menschen. Man schritt der Sonne entgegen, zur Freiheit, dahin wo alle Menschen Schwestern und Brüder werden würden.

Das macht ja keiner mehr. Das Manifeste schreiben. Das an die Zukunft glauben. Zur Sonne? Ohne UV-Schutz? Brüder? Mit denen? Wir Einzelkinder? Nee, dann doch lieber jeder für sich selbst und schön alleine.

Die Stadt Berlin, sie war dann doch noch mal sowas wie eine Versprechung in den letzten 25 Jahren. Nach Berlin zogen schon immer die Unangepassten beziehungsweise diejenigen, die sich nicht dem Druck der Konformität der Provinz beugen wollten. Die mittelalterliche Parole von der Stadtluft, die frei macht: In den Ruinen des Nachwende Ost-Berlins, in denen der Galerist und der Boheme, der DJ und der Klubbetreiber eine Spielwiese und eine neue Heimat finden sollten, hier wurde sie definitiv noch einmal wahr. Für eine gewisse Zeit zumindest.

Irgendwann, so schien es, kamen sie alle nach Berlin. Konnte man in den 80ern und 90ern noch in jeder mittelgroßen deutschen Stadt Künstlertypen besuchen, wohnten die alle irgendwann in Fahrradnähe. Sogar die Hamburger kamen irgendwann, so ungefähr als Ole von Beust und Ronald Baltasar Schill den dortigen Senat übernahmen und eine für die Hansestadt verheerende Kulturpolitik umsetzten. Die steigenden Mieten in der Hanse waren aber wohl der wesentliche Faktor. Das hört man auch aus München, aus Köln. Aus überall. Die Lower East Side, die sich Manhattan nicht mehr leisten konnte, die Spanier und die Griechen, sie alle kamen an die Spree. Und sie brachten ihre Stories mit. Sehr viele Erzähler kamen, um es mit dem Titel der Ausstellung zu sagen. Bei der Künstlersozialkasse sind um die 8000 Berliner KünstlerInnen gemeldet. Und bei der KSK wird wahrlich nicht jeder genommen.

Da ist sie also: die künstlerische Kakophonie. Es gibt in Berlin Leute, die an einem Freitagabend sieben Vernissagen besuchen. Und sie schaffen damit noch nicht einmal annähernd eine kritische, im Sinne von repräsentative Masse. Es ist nahezu unmöglich zu behaupten, man hätte über die Berliner Szene einen Überblick und kriegte alles mit. Man muss sich schon konzentrieren. Auf gewisse Programme, auf Orte, Inhalte oder schlicht auf die Erfolgreichen. Aber in dem Falle kriegt man die spannenden, die noch zu entdeckenden jungen Talente natürlich nicht mit.

Und so bilden sich lose Netzwerke mehr als das sich Gruppen bilden. Künstler organisieren Gruppenausstellungen und Kunsträume, verschaffen sich selber Visibilität. Man schließt sich für die Dauer einer Ausstellung, für ein gemeinsames Projekt zusammen. Es ist eine Partnerschaft auf Zeit. Für die Dauer des Projektes oder manchmal auch gleich für mehrere Projekte. Es sind also ganz pragmatische Zusammenschlüsse. Es gibt keine Manifeste, so wie sie früher Künstlergruppen schrieben: Die Situationisten, die Futuristen, die Dadaisten.

Die neuen pragmatischen Gruppen sind die Ismen los. Dem liegt nicht mangelnde politische, ethische oder ideologische Überzeugung zugrunde, sondern vielmehr der Zweifel an den totalen Wahrheiten der Vergangenheit selbst. Ihr liegt die Lässigkeit im Sinne von Zu-Lassen zugrunde. Zulassen, dass es verschiedene Stimmen gibt. Verschiedene Stimmen verschiedener Erzähler. Stimmen, die einen Chor bilden können. Oder durcheinander gehen. Stimmen die wahr sprechen können. Aber auch solche, die sich irren. Und somit geht es auch um das Zulassen von Fehlern.

Im Scheitern liegt die Chance, proklamierte Christoph Schlingensief. Und die Erkenntnis kann aus Fehlern erwachsen. Im Er-Kennen liegt eine weitere Eigenschaft und Aufgabe der Kunst. Das Erkennen und das Kennen gehen dem Be-Nennen voraus, dem Be-Zeichnen auch. Das Ge-Zeichnete und das Be-Zeichnete, das Bild und das Wort stammen aus der gleichen Quelle. Und diese ist ganz genauso alt, wie die Menschheit selbst. Ohne das wir bezeichnen und zeichnen, ohne dass wir uns Erzählen, Geschichte und Geschichten und diese dann ausmalen, ohne diese Praktiken gibt es praktisch die Künste nicht. Und ohne die Künste sind wir selber nichts und haben uns aufgegeben. Das erzählen von Geschichte und Geschichten ist menschliches Ur-Motiv und macht uns erst zu Menschen.

Die Vielzahl der Stimmen, der hier versammelten 35 künstlerischen Positionen, sie wird auch wunderbar durch die Vielzahl der kleinen Räume reflektiert, in denen diese Ausstellung gehängt und aufgebaut ist. Bezüge und Referenzen zwischen einzelnen Werken können sich für den umherschweifenden Besucher also subtil herstellen. Die Arbeiten selbst bilden ein breites Spektrum an künstlerischen Positionen, Stilen, Techniken und Materialien ab.

Und in diesem Sinne bleibt zu sagen: Flanieren Sie durch die Ausstellung, wie die Situationisten durch den Stadtraum, suchen sie nach Hoffnung im Vorne wie die Futuristen und stellen Sie dann wieder alles in Frage, machen Sie sich lustig und schlagen Sie alles kaputt wie die Dadaisten es taten. Denn DIEse GESCHICHTE HAT VIELE ERZÄHLER. Ob es ZU Viele sind und ob das EIN FEHLER ist, das entscheiden Sie besser selbst. Und erzählen es dann weiter. Auf Ihre ganz eigene Weise. Bringen Sie Ihre Stimme mit in den großen Chor ein. Werden Sie Teil des Ganzen. Seien Sie dabei! Seien Sie ganz Gruppe. Und ganz Individuum.

Oder anders: Viel Spaß in der von Axel Anklam und Jan Muche kuratierten Ausstellung.

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